Grünen-Gründer W. Knabe01.04.2013Glücksmomente im hohen AlterWilhelm Knabe (stehend) bei der Sitzung der Grünen Alten e.V. in Berlin 2015Die letzten Wochen waren erfüllt sowohl von bangen Gedanken, wie das Leben wohl weitergehen würde, als auch von überraschenden Wendungen, die mich beflügelten und mit großer Freude erfüllten. Die Sorgen waren berechtigt. Nach fünfjähriger Pflege meiner Frau bis zu ihrem Tode und einem unmittelbar anschließenden Unfall war ich selbst zeitweise zur Untätigkeit verbannt und saß im gleichen Rollstuhl, in dem Rikarda die letzten Jahre verbracht hatte.Doch jetzt war sie nicht mehr da und ein riesiges Loch tat sich auf, mit vielen Fragezeichen, wo ich denn bleiben sollte. In Mülheim oder in der Nähe der Kinder, die in Osnabrück, Bremen Berlin und Brandenburg wohnen und so über ganz Norddeutschland verstreut sind. Konnte ich das große Haus allein weiter bewirtschaften? Durfte ich weiter mit dem Auto fahren, sobald der gebrochene Fuß ausgeheilt war? Dann fing das Herz auch noch an zu meckern und meine Hausärztin schickte mich zum ausgewiesenen Spezialisten Professor von Sabin nach Essen. Am Ende aller Untersuchungen einschließlich eines Stress-Echokardiogramms, bei dem durch Zugabe von Dopamin in den Blutstrom das Herz künstlich zum Rasen gebracht wird, kam ich zum Professor hoch: »Herr Knabe, wir haben ein hervorragendes Ergebnis.« Ich antwortete spontan »Das ist ja gut, dann kann ich Sie gleich zu meinem 90 zigsten Geburtstag im nächsten Jahr einladen.« Und er daraufhin »Das machen Sie genau richtig, Sie müssen sich etwas vornehmen, ihren Geburtstag feiern, mit hundert noch mal heiraten. Ihr Herz hält auch noch 120 Jahre.« Auf der Heimfahrt fühlte ich mich richtig beflügelt.Die Ermutigung hielt an.So sagte ich Ja zum Treffen mit den wenigen noch lebenden und reisefähigen Studienfreunden am Chiemsee in Bayern. Zwei der mir liebsten fehlten leider. Sie hatten mit mir von 1946 – 1950 studiert und für eigenständige, von der SED unabhängige Studentenvertretungen gekämpft. Das Wiedersehen mit all den anderen war wunderschön. Seit dem Fall der Mauer hatten wir schon auf die 90 zugehenden « Alten« uns jedes Jahr getroffen, die Schönheiten Deutschlands und der Alpen erlebt und dabei ausgiebig gemeinsam gesungen und erzählt. Doch diesmal war bei dem liebevoll von Gerd vorbereiteten Treffen manches anders. Die Beine wollten bei vielen nicht mehr so wie früher. Die alten Witze klangen nicht mehr so spritzig und die Stimmen hatten auch gelitten, so dass Udos Gitarrenspiel besonders wichtig war. An einem Nachmittag geschah dann etwas Besonderes. Wir waren eingeladen bei Familie Austermann. Dort entwickelte sich eine solch entspannte Atmosphäre, dass plötzlich auch die zu Wort kamen, die sonst immer vergeblich gewartet hatten, ob die sprudelnden Erzähltalente mal wirklich eine Pause machten. – Na ja, ich gehöre wohl auch dazu. – In dieser Stimmung kamen von den anderen noch nie gehörte Erlebnisse im oder nach dem Kriege zur Sprache. Das war beglückend. Beeindruckend war auch die Energie und der Einsatzwille unseres auf den Rollstuhl angewiesenen Freundes Hans-Jürgen und wie sich die noch halbwegs Gesunden um diejenigen kümmerten, die noch schlechter dran waren.Ich hatte nicht nur zum Semestertreffen Ja gesagt, sondern zusätzlich bei meinem Freund Christian in München angefragt, ob wir uns nicht auf meiner Rückfahrt sehen könnten. Er sagte zu und stand am Freitagmittag am Bahnhof, um mich abzuholen. Zu meiner großen Überraschung hatte sich der Firmengründer und Unternehmer, der nur halb so alt war wie ich, das ganze Wochenende bis zum Montagmorgen für mich frei genommen. Seine Frau und die beiden Kinder waren noch im fernen Kalifornien und wurden erst für den Dienstag erwartet.In langen Gesprächen tauschten wir unsere Erfahrungen in der Wirtschaft, Politik und Wissenschaft aus, wobei jeder dem andern bereitwillig zuhörte. Ich verstand jetzt den Unterschied zwischen Unternehmer und Kapitalist. Der Unternehmer braucht Kreativität, um eine Geschäftsidee zu entwickeln, die sich auf dem globalen Markt behaupten kann und damit Menschen Arbeit und Broterwerb verschafft. Zusätzlich braucht er jedoch Kapital, um das Unternehmen auch aufzubauen. Dem Geldgeber wiederum liegt häufig nur die Höhe der Rendite am Herzen, wobei ein höheres Risiko mit entsprechendem Renditeanstieg kompensiert werden soll. In Deutschland scheint die Bereitschaft, das benötigte Risikokapital zur Verfügung zu stellen, besonders schwach zu sein. Umgekehrt beantwortete ich seine Fragen nach meinen Erfahrungen über den Ablauf politischer Prozessen in der Kommune und der großen Politik. Ganz wichtig waren auch die Gespräche über ganz persönliche Fragen, denn jeder von uns beiden stand vor wichtigen Entscheidungen.Mit innerem Genuss schauten wir noch am Freitagnachmittag die Expressionisten und andere Kunstwerke in der »Pinakothek der Moderne« in München an. Am Samstag durchwanderten wir die Gärten und die Parklandschaft von Schloss Nymphenburg, machten eine gemütliche Mittagspause und schlenderten danach durch die Altstadt von München, bis die Dunkelheit hereinbrach.Da, am Rande des »Englischen Gartens« hörten wir Musik. Wir steuerten auf das Licht zu und erreichten einen offenen Pavillon, in dessen Inneren sich viele Paare, offensichtlich gekonnt, im Tanze bewegten. Während ich noch gespannt dem Treiben zusah, sprach mich eine Frau im bayerischen Dirndl an und fragte « Wollen sie nur zusehen oder auch tanzen?« »Natürlich tanzen«, denn die lateinamerikanische Musik sagte mir zu und Jive war einer meiner Lieblingstänze. So drehten wir uns nur mit leichter Berührung der Hände inmitten des bunten Treibens oder gingen vor und zurück jeder Eingebung folgend. Das Erstaunliche und Beglückende war, die Tatsache, dass mein rechter Arm, der als eine Unfallfolge gar nicht mehr hochgehoben werden konnte, plötzlich ohne Schwierigkeiten die Dame Ein-und Ausdrehen ließ. Das Gefühl war unbeschreiblich. Trotzdem erzählte ich ihr, sie hätte heute ihren Altersrekord im Tanzen gebrochen, denn ich würde im nächsten Jahr schon 90, aber das glaubte sie wohl nicht, denn sie lud mich ein, doch wieder zu kommen , da sich ihre Tanzgruppe hier jeden Abend träfe.- Leider nicht an Sonntagen, denn am Montag wollte ich zurück nach Mülheim. Dort wartete schon die Weiterarbeit zu zweit an meiner Biographie.Nachmittags um halb vier kam ich in Mülheim an, schnell mit dem Taxi nach Hause, 20 Minuten noch ausgestreckt im Bett als sehr verkürzte Mittagsruhe und dann zur Wassergymnastik ins Rembergbad. Es war zu heiß zum Laufen und ich war auch zu müde, aber das Wasser wollte ich mir nicht entgehen lassen. Mit »Hallo« begrüße ich die Gruppe, die schon angefangen hatte: »Ich komme direkt vom Zug.« Dann reihte ich mich in das Spiel ein und folgte den vorgegebenen Übungen. Ganz zum Schluss hieß es: »So noch ein paar Schwimmzüge«. Ich versuchte es, denn seit dem Unfall war der rechte Arm zu kraftlos zum Schwimmen. Doch heute ging es und ich konnte tatsächlich eine paar Züge geradeaus schwimmen. Irgendetwas musste passiert sein beim Tanzen und Schwimmen, dass ich den Arm wieder bewegen konnte. Ich war auf dem Nachhauseweg so glücklich, dass ich es am liebsten jedem erzählen hätte.Am späten Abend machte ich meinen üblichen Weg zum Remberg hinauf aufs Feld bis zum Wegekreuz und dachte an die Lieben, die vor Schmerz nicht schlafen könnten oder die andere Nöte bedrückten Wie jede Nacht dankte ich dann für das große Geschenk, noch hinaufgehen und den Arm bewegen zu können, um mir mein Glück noch einmal bewusst zu machen. Ich habe längst erfahren, dass danken glücklich macht, weil es das Positive aus Allem am Tage Erlebten heraushebt und Ärger, Missmut und Mutlosigkeit nicht aufkommen lässt. Einmal habe ich dazu gesagt:« Wer täglich dankt, hat keine Zeit zum Klagen.«Mülheim, 12.09.2012 Wilhelm Knabe E‑Mail: wilhelmknabe(at)gmx.deDiesen Beitrag teilen mit: