Altersarmut breitet sich aus

Woran liegt das? Was kann und was muss abhelfen?

Die Armuts­ge­fähr­dung stieg seit 2005 am stärks­ten in der Gene­ra­ti­on 65plus (Desta­tis) sowie die Zahl alters­ar­mer Per­so­nen all­ge­mein und zudem die Quo­te der Altersarmut!

Noch wirkt die Zahl ver­schwin­dend gering: Im Dezem­ber 2020 betrug der Anteil der Emp­fän­ger von Grund­si­che­rung im Alter, bun­des­weit im Durch­schnitt 3,2 %. In Deutsch­land waren es im Jahr 2018 411.000, aber im Dezem­ber 2021 schon 589.000 Per­so­nen in der Grund­si­che­rung im Alter (sie­he Anmer­kung).

Mitt­ler­wei­le stellt sich her­aus, dass die Grund­si­che­rungs­quo­te unter Rent­nern Ü64 in vie­len gro­ßen deut­schen Städ­ten deut­lich höher liegt, als in den Bun­des­län­dern, wobei mit Abstand Ham­burg (8,5 %), Bre­men und Ber­lin (6,6 %), die höchs­ten Quo­ten auf­wei­sen. Zum Ver­gleich Thü­rin­gen mit der nied­rigs­ten Ü64-Armuts­quo­te 2019 von 1 % (Desta­tis). Noch sind es nur die Groß­städ­te, die die­se Alters­ar­men hervorbringen.

Konferenz "Baustelle: Alternde Gesellschaft", am 19.09.2022 in Berlin-Mitte
FSp. | GRÜNE ALTE Kon­fe­renz »Bau­stel­le: Altern­de Gesell­schaft«, am 19.09.2022 in Berlin-Mitte

Schaut man genau­er in Stadt­tei­le die­ser Städ­te, so zei­gen sich Quo­ten von bis zu 30 % oder gar höher. Und dies durch­aus in Umfel­dern, wo die Armut in der Bevöl­ke­rung höher liegt als im Durch­schnitt der Stadt oder des Stadt­be­zirks, so z. B. in Berlin-Wedding.

Um die Alters­ar­mut in indi­vi­du­el­len Fäl­len abzu­mil­dern, wur­de neben der Ren­ten­ver­si­che­rung 2021 die Grund­ren­te ein­ge­führt und dies, obwohl man auch eine Min­dest­ren­te dis­ku­tier­te, denn Min­dest­ren­ten gibt es bereits in ande­ren euro­päi­schen Län­dern wie den Nie­der­lan­den und Öster­reich. Die bun­des­deut­sche Grund­ren­te kom­pen­siert soweit nur die­je­ni­gen Alters­ren­ten, die wenigs­tens 33 Jah­re bei­trags­pflich­tig erwerbs­tä­tig waren, aber dabei gering ent­lohnt wurden.

Als Berech­nungs­ba­sis für die nach einer Prü­fung der Ren­ten­ver­läu­fe auto­ma­tisch durch den Ver­si­che­rer und ohne Antrag aus­be­zahl­te Grund­ren­te, dient nur der Aus­schnitt der per­sön­li­chen Ver­diens­te, die zwi­schen 30 und 80 % des Durch­schnitts­ge­hal­tes lagen.

Der Durch­schnitts­be­trag der Aus­zah­lung liegt ver­mut­lich bei etwa 75 Euro pro Monat und erreicht einen Maxi­mal­be­trag von etwa 420 Euro monat­lich, für eine geschätz­te Zahl von 1,3 Mio. Alters­rent­ne­rin­nen und Altersrentner.

Wann ist eine Altersrente existenzsichernd?

Um am Lebens­en­de eine wenigs­tens exis­tenz­si­chern­de Ren­te (heu­te etwa 1.200 Euro ange­sichts der aktu­el­len Preis­stei­ge­run­gen bei Mie­te, Grund­ver­sor­gung, Ener­gie eher höher) zu bekom­men, braucht man eine bestimm­te Anzahl von Ent­gelt­punk­ten in der gesetz­li­chen Rentenversicherung. 

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Man muss sage und schrei­be ins­ge­samt 540 Mona­te ein sozi­al­ver­si­che­rungs­pflich­ti­ges Brut­to­mo­nats­ein­kom­men von min­des­tens etwa 2200 Euro ver­die­nen, um ein eigen­stän­di­ges Exis­tenz­mi­ni­mum für das Alter(n) zu erlan­gen (Stand 2015). Die­se Kri­te­ri­en müs­sen bei einem gesetz­li­chen Min­dest­lohn, der erst ab 1. Okto­ber 2022 auf 12 Euro ange­ho­ben wur­de. Oder anders aus­ge­drückt: Man muss 45 vol­le Jah­re lang in einer 37,7‑Stunden-Woche mit einem 16 Euro Stun­den­lohn sozi­al­ver­si­che­rungs­pflich­tig gear­bei­tet haben, um im Alter eine monat­li­che Min­dest­ren­te von (bei heu­ti­gem Niveau) 1.160,62 Euro zu erhal­ten, d. h. man erhält für ein Jahr Erwerbs­ar­beit nach die­sem Rechen­bei­spiel genau 25,79 Euro pro Monat (merkur.de vom 16.09.2022).

Aha! Ach so! Da also sitzt also der Teu­fel, der ein­ge­bau­te Schreck … ääähmm … der Feh­ler­teu­fel: Man muss also sogar deut­lich mehr als den heu­ti­gen Min­dest­lohn pro Stun­de ver­die­nen und dies 45 Jah­re lang, in einer Voll­zeit­be­schäf­ti­gung ohne einen Beschäf­ti­gungs­mo­nat Unter­bre­chung, um im Alter gera­de so über die Run­den zu kommen!

Wie realistisch ist das?

Ist es jeder und jedem Erwerbs­tä­ti­gen mög­lich, jahr­zehn­te­lang mit die­sem Min­dest­brut­to­ein­kom­men, ohne jede Unter­bre­chung und Pau­se zu arbei­ten, ohne Krank­heit, mit Mutterschaft(en), bei Unfall und viel­leicht auch Reha, oder in aka­de­mi­scher Lauf­bahn mit Doktorarbeit?

Ich schau­te in die Sta­tis­tik und sehe, dass im Jahr 2019, unter den west­deut­schen Män­nern und Frau­en, die bereits 60 bis 64 Jah­re alt waren, nur 54 % (Frau­en) über­wie­gend gesetz­lich ren­ten­ver­si­chert waren und 69 % der Män­ner die­ser Alters­grup­pe; bei den ost­deut­schen waren es 82 % Frau­en bzw. 74 % Män­ner (Ver­si­cher­ten­be­richt der DRV 2021). Dies offen­bart Lücken im Erwerbs­ver­lauf, die in die­sem Alter nicht mehr durch Arbeits­markt­teil­nah­me über­brück­bar sein dürften.

Noch eine Per­spek­ti­ve auf die höhe­ren Anfor­de­run­gen der ren­ten­ver­si­che­rungs­pflich­ti­gen Kri­te­ri­en: so es gibt aktu­ell 1.421.000 Beschäf­tig­te in Mini­jobs, dar­un­ter 807.000 Frau­en (Desta­tis). Im Jahr 2020 waren 4,4 Mil­lio­nen Erwerbs­tä­ti­ge (dar­un­ter 60 % Frau­en) nur in einem Mini­job und in kei­ner ande­ren Beschäf­ti­gung (WSI Gen­der­Da­ten­Por­tal: Erwerbs­ar­beit, 2022). So gera­ten Frau­en also in die nächs­te Ren­ten­fal­le, denn nach der jahr­zehn­te­lang kri­ti­sier­ten Teil­zeit­fal­le, gera­ten sie nun – womög­lich umso dra­ma­ti­scher – in die Mini­job­fal­le, denn vie­le Frau­en sind heu­te lang­jäh­rig in gering­fü­gig bezahl­ten, wenn­gleich sozi­al­ver­si­che­rungs­pflich­ti­gen Mini­jobs gebun­den. Mini­jobs rei­chen aber nicht für Ansprü­che auf Grundrente!

Was also sagt uns das?

Nach wel­chem sozi­al-ethi­schen Modell ist die Rea­li­sie­rung auch die­ses rigi­de gefass­ten, gesetz­li­chen Anspruchs bemes­sen? Kann man sich hier­zu die Fra­ge stel­len, ob ein so eng bemes­se­nes Anfor­de­rungs­pro­fil an die klei­ne Alters­ren­te nicht ein Recht auf Arbeit vor­aus­set­zen müss­te, wenn man befür­wor­tet, dass Men­schen nach einem lang­jäh­ri­gen Berufs­le­ben von wenigs­tens 33 erwerbs­ak­ti­ven Jah­ren, eine aus­rei­chen­de gesetz­li­che Alters­ren­te bean­spru­chen können? 

Wenn die Anfor­de­run­gen an eine exis­tenz­si­chern­de Alters­ren­te nicht mit dem heu­ti­gen, nach Gesetz bestimm­ten Min­dest­lohn (Kluft 12 Euro zu 16 Euro; sie­he oben) zu errei­chen ist, und außer­dem die voll­kom­me­ne Unun­ter­bro­chen­heit der Erwerbs­ver­läu­fe, auch bei 16 Euro Stun­den­lohn, nach Ren­ten­ver­si­che­rungs­recht vor­aus­ge­setzt wird, so stellt sich die Fra­ge, nach einer gesetz­li­chen Min­dest­al­ters­ren­te für alle Wenig­ver­die­ner, oder wenigs­tens die nach einer wei­te­ren Geset­zes­er­gän­zung, denn war­um soll­ten nach Grund­ren­ten­ge­setz, alle die­je­ni­gen aus­ge­schlos­sen wer­den, die hohe Ver­dienst­chan­cen (über 80 %) haben und pha­sen­wei­se (Mut­ter­schaft, Ange­hö­ri­gen­pfle­ge und z. B. Dok­tor­ar­beit oder Aus­lands­auf­ent­halt) mit Mini­jobs über­brü­cken müssen? 

Die­se Über­le­gung soll­ten wir dis­ku­tie­ren, oder aber auch die Anpas­sung der Ren­ten­ver­si­che­rungs­vor­ga­ben für die Erwerbs­ver­läu­fe, an die heu­ti­gen Arbeits­markt­rea­li­tä­ten. Eine Garan­tie­ren­te zu for­dern, ist plausibel!

Diplom-Ver­wal­tungs- und Diplom-Kauf­frau Rena­te Straet­ling, Berlin-Mitte

26. Sep­tem­ber 2022

Anmerkung

Die Grund­si­che­rung im Alter, ein­ge­führt im Jahr 2003, wur­de zum Beginn des Jah­res 2005 als Leis­tung der Sozi­al­hil­fe nach dem 4. Kapi­tel SGB XII modi­fi­ziert und stockt vie­le klei­ne, nicht-exis­tenz­si­chern­de Ren­ten auf. Etwa 75 % der Grund­si­che­rungs­emp­fän­ger lässt dabei die klei­ne Alters­ren­te ver­rech­nen.
Zu einem Dia­gramm der Armuts­quo­ten aller Bun­des­län­der bei Desta­tis …
Die Lang­fas­sung die­ses Bei­trags – auf Ber­lin-Mit­te bezo­gen – fin­det sich im Bei­trag Okto­ber, in der monat­li­chen Ü60-Kolum­ne des weddingweiser.de …

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One comment

  1. Die­ser Bei­trag ist sehr wich­tig! Zur »Grund­si­che­rung« ist noch zu ergän­zen, dass die Ver­mö­gens­frei­be­trä­ge sehr gering sind (5000 Euro bzw. 10.000 Euro bei Ehe­paa­ren), man muss also sein Erspar­tes ein­set­zen, bis man die Hil­fe erhält. Dies ist z. B. rele­vant beim The­ma Pfle­ge­be­dürf­tig­keit, wel­che man als finan­zi­el­les Risi­ko im Alter anse­hen muss. Zum The­ma »Grund­ren­te«: Frau­en erhal­ten aus den im Arti­kel erwähn­ten Grün­den sel­te­ner Grund­ren­te, und falls die Bedin­gun­gen gege­ben wären, spielt das Haus­halts­ein­kom­men noch eine Rol­le, bei der Grund­ren­te wird das Ein­kom­men der Partnerin/des Part­ners angerechnet.

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