Selbsthilfe im Alter – ein Balance-Akt

In mei­ner Jugend gab es die Do-it-yours­elf-Bewe­gung: Jetzt-hel­fe-ich-mir-selbst. Ich besaß ein klei­nes Auto und hat­te ein Hand­buch dabei. War etwas kaputt, z. B. brach von der Blatt­fe­der der Rad­auf­hän­gung ein ein­zel­nes Blatt, kauf­te ich in der Werk­statt genau die­ses Blatt nach und mon­tier­te es nach der Anlei­tung. Ich spar­te so viel Geld.

Im Bür­ger­li­chen Gesetz­buch gibt es den § 229 „Selbst­hil­fe“. Sie „stellt im deut­schen Rechts­sys­tem eine Aus­nah­me zu dem Grund­satz dar, dass die Rea­li­sie­rung pri­va­ter Ansprü­che an staat­li­che Recht­mit­tel geknüpft ist. (Sie) ist aus­nahms­wei­se zuläs­sig, wenn ‚obrig­keit­li­che Hil­fe’ nicht recht­zei­tig zu erlan­gen ist“. So gibt es das Pfand­recht des Ver­mie­ters, die Selbst­hil­fe des Besit­zers und auch „die Ver­fol­gung eines Bie­nen­schwar­mes durch den Eigen­tü­mer“. Man darf Selbst­hil­fe „nur im Rah­men der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit ausüben“.

Der Begriff „Orga­ni­sier­te Grup­pen­selbst­hil­fe ist eine fest­ge­leg­te Defi­ni­ti­on inner­halb des Woh­nungs­baus“ und betrifft Bau­en in Eigen­leis­tung. „Die gesam­te Grup­pe der Selbsthelfer/innen arbei­tet an allen Häu­sern des Woh­nungs­pro­jek­tes.“ So ent­stan­den nach dem Krie­ge Sied­lun­gen für die Flücht­lin­ge, die sich durch Gär­ten und Klein­vieh­stäl­le auch noch selbst ver­sor­gen sollten.

Selbst­hil­fe­grup­pen „sind selbst-orga­ni­sier­te Zusam­men­schlüs­se von Men­schen, die ein glei­ches Pro­blem oder Anlie­gen haben und gemein­sam etwas dage­gen bzw. dafür unter­neh­men möch­ten.“ Es gibt in Deutsch­land etwa 70.000 bis 100.000.

Wie nun stellt sich das Pro­blem der Selbst­hil­fe im Alter dar? Selbst­ver­ständ­lich spie­len spa­ren, eige­ne Rechts­durch­set­zung, orga­ni­sier­te Grup­pen­ar­beit und die Durch­set­zung eines gemein­sa­men Anlie­gens auch hier eine Rol­le. Ent­schei­dend aber ist eine völ­lig ande­re Gewich­tung der Kom­po­nen­ten ‚Selbst’ und ‚Hil­fe’. Im Alter wird das ‚Selbst’ zen­tral. Wenn nicht jetzt – wann dann? Man ist nun auto­nom (d. h. man könn­te nun auch Geset­ze selbst machen), unab­hän­gig, selb­stän­dig, selbst ver­wal­tet, selbst­be­wusst, und das alles natür­lich frei­wil­lig! Man hat ein eige­nes Inter­es­se an der Gesell­schaft, man will sich ein­mi­schen, man will Bünd­nis­se schlie­ßen mit den Jun­gen, den Ein­wan­de­rern und den Armen. Man will sich der Gebrech­lich­keit des Alters stel­len und sich in der geis­ti­gen Welt bewe­gen, die uns durch den Tod nahe­ge­bracht wird. Imma­nu­el Kant nennt das „Die Mög­lich­keit des Men­schen, sich durch sich selbst in sei­ner Eigen­schaft als Ver­nunft­we­sen zu erken­nen“.

Was aber ist, wenn das selbst­stän­dig nicht mehr geht? Dann braucht man Hil­fe. Aber wel­che? Das wis­sen wir nicht sofort, das muss erkun­det wer­den. „Akti­vie­ren­de Hil­fe­er­kun­dung“ nennt das Pro­fes­sor Andre­as Kru­se. Mit­hel­fen­de Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge – was machen die eigent­lich? Sind die Pfle­ger, bloß nicht pro­fes­sio­nell? Und was machen die pro­fes­sio­nel­len Pfle­ge­diens­te, Kran­ken­häu­ser, Ambu­lan­zen anders? Und was ist bes­ser? Und muss man sich über­haupt hel­fen las­sen? Und wer bestimmt das? Und was ist mit der „neu­en Höl­le“, wie ein Jour­na­list der Süd­deut­schen Zei­tung sagt, „der Demenz“? Wie kann man da über­haupt noch ‚hel­fen’? Pro­fes­sor Kru­se spricht davon, dass es auch bei Demen­ten noch „Inseln des Selbst“ gibt, die es zu akti­vie­ren gilt.

Aber ist das alles noch Hil­fe und wer soll sie tun? Unter ande­rem Wir. Das ist heu­te die Grup­pe der Jun­gen Alten. In der Demo­gra­phie-For­schung hat es sich ein­ge­bür­gert, von „Alters­ko­hor­ten“ zu spre­chen. Für eine bestimm­te Jahr­gangs­grup­pe tref­fen gemein­sa­me Merk­ma­le zu: Die heu­ti­ge Kohor­te der Jun­gen Alten umfasst die Jahr­gän­ge 1941 bis 1954 – also um 70 her­um –, sie müs­sen nicht mehr arbei­ten, sind noch eini­ger­ma­ßen gesund und ver­fü­gen noch über aus­rei­chen­de Geld­mit­tel. Sie füh­len sich ihrer Kohor­te gegen­über ver­ant­wort­lich und wol­len aktiv ein­grei­fen. Die 68er gehö­ren dazu, aber sie waren damals eine Min­der­heit und sind es bis heu­te geblie­ben. Es gibt vie­le Ein­zel­kämp­fer unter ihnen und erst all­mäh­lich wächst der Zusam­men­schluss zu soli­da­ri­schem Han­deln. Die­se Kohor­te wird Trä­ger zukünf­ti­ger Ent­wick­lun­gen sein. Nach oben schlie­ßen sich die um 85jährigen als ‚mitt­le­re Alte’ an und die Kohor­te der ‚alten Alten’ geht bis ans Lebens­en­de. Nach unten drän­gen die ‚Baby­boo­mer’ nach, sie sind vie­le. „1964 bin ich gebo­ren“, sagt einer stolz, „und mit mir wei­te­re 1,2 Mil­lio­nen. Wir machen, was wir wol­len und für euch Älte­re inter­es­sie­ren wir uns nicht!“ Recht hat er aus sei­ner Sicht, wir aus unse­rer (Ich bin Jahr­gang 1941) machen es genauso.

Und für mei­ne Kohor­te bedeu­tet es, dass wir unser akti­ves, auto­no­mes und selb­stän­di­ges Han­deln mit der Hil­fe, die wir geben, aus­ba­lan­cie­ren müs­sen. „Altern in Balan­ce?! – Psy­chi­sche Gesund­heit im Alter“ lau­te­te der Titel einer Ver­an­stal­tung in Bre­men. Dabei geht es um die Aus­ta­rie­rung des Lebens ins­ge­samt. Das ist dann eigent­lich kei­ne ‚Hil­fe’ mehr – das ist Zusam­men­le­ben! Die bei­den Begrif­fe durch­drin­gen sich und heben sich auf. So zeigt sich erst im Alter, dass es nicht auf das gegen- oder neben­ein­an­der von ‚pro­fes­sio­nel­len’ Diens­ten und ‚nor­ma­len’ Hil­fe­leis­tun­gen im All­tag ankommt, son­dern auf das Mit­ein­an­der-Leben in Wür­de. Das ist ein Bei­trag der Alten für die Gesell­schaft, der so ihre Chan­ce erhält, die Gegen­wart mit der Zukunft auszubalancieren.

Ich lebe seit 5 Jah­ren in einer Nach­bar­schafts­in­itia­ti­ve in einem Vor­ort von Bre­men. Klei­ne Miets­häu­ser mit 5 Par­tei­en ste­hen an der Stra­ße, am Ende ist eine Begeg­nungs­stät­te, in der wir unse­re Ver­samm­lun­gen abhal­ten, und dane­ben liegt ein Mehr-Gene­ra­tio­nen-Spiel­platz, den wir mit ent­wor­fen haben. Es begann mit einem Stra­ßen­fest und danach ent­wi­ckel­ten sich vie­le Akti­vi­tä­ten: Vor­trä­ge, Rad­fahr­ten, Spie­len, Sin­gen, Gym­nas­tik , Aus­flü­ge, Fes­te, Besich­ti­gun­gen und so fort. Nach­dem wir uns eini­ger­ma­ßen ken­nen­ge­lernt hat­ten, woll­ten wir auch eine Nach­bar­schafts­hil­fe orga­ni­sie­ren. Nur wie? Ein Hin­weis in unse­rer Info-Tafel, „Wenn Sie Hil­fe brau­chen, mel­den Sie sich“, schien uns zu all­ge­mein zu sein. Und eine Lis­te hin­zu­hän­gen, die unse­re Namen und Tele­fon­num­mern mit unse­ren kon­kre­ten Hilfs­an­ge­bo­ten ent­hielt, ging schon aus Daten­schutz­grün­den nicht. Nein, es muss­te etwas dazwi­schen geschal­tet wer­den: Per­so­nen, die man schon län­ger kann­te und die ver­trau­ens­wür­dig waren. Wir stell­ten also die Lis­te mit unse­ren kon­kre­ten Hilfs­an­ge­bo­ten zusam­men – Glüh­bir­nen aus­wech­seln, Tisch­lern, Möbel­rü­cken, Behör­den­gän­ge, For­mu­lie­rungs­hil­fen usw. – und hän­dig­ten sie den Ver­trau­ens­per­so­nen aus. Deren Namen und Tele­fon­num­mern wur­den ver­öf­fent­licht und sie ver­mit­tel­ten dann die gewünsch­te Hil­fe.
Die­ses Ange­bot wird lang­sam ange­nom­men. Für die, die nicht direkt betrof­fen sind, ist es schon nicht mehr sicht­bar. Als ich nach län­ge­rer Zeit nach­frag­te, wie es denn mit der Annah­me sei, wur­de mir ver­si­chert, dass der und dem habe gehol­fen wer­den kön­nen mit Kran­ken­ver­sor­gung, Umzugs­hil­fe oder Essens­diens­ten. Es funk­tio­niert also – lang­sam zwar, aber da lernt man ja auch das Balan­cie­ren bes­ser.
(Die unbe­nann­ten Zita­te sind aus einem Selbst­hil­fe-Arti­kel von Wikipedia.)

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